Die Fragen sind es, aus denen das, was bleibt, entsteht (Erich Kästner)

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Das Ende des Genies?

In An Manche on August 25, 2009 at 10:24 am

Bild: Zendragon

Das Genie schafft Neues, nie Dagewesenes, Unvergleichliches aus dem Nichts. Das Genie lässt sich nicht auf eine Stufe mit gewöhnlichen Handwerkern stellen. Das Genie hat originäre Ideen, die kein Mensch vorher erdacht hat noch erdenken konnte. Das Genie hat eine Mission, die ihm vom Schicksal übertragen wurde. Das Genie ist ein Geschenk des Himmels.

Transparenz ist der grosse Feind des Genies. Denn sie entlarvt das Genie als eine Projektion, als Idealisierung und als Selbststilisierung. Denn was, wenn jeder die Ursprünge des Genies nachvollziehen kann? Wenn das Neue als Variation, Verknüpfung oder Kopie von Vergessenem entlarvt wird? Wenn die Ideen gar nicht originär sind (sein können)? Wenn nicht das Schicksal, sondern der Zufall den Erfolg gebracht hat? Wenn nicht der Himmel, sondern die Wahrscheinlichkeitsrechnung die Geschenke verteilt?

Was ist dann? Fehlt uns dann was? Würde das Genie aus unserem Wortschatz verschwinden? Oder würden wir weiter so tun als ob es Genies gäbe? Wie stünde es um das Selbstverständnis des Genies, das aus der Illusion seiner Einzigartigkeit gerissen wird?

Und: hat das Genie als Vehikel von Ideen Nutzen gebracht? Hat es das Grosse ins reche Licht gerückt? Oder hat es vor allem Schatten auf andere geworfen?

Gibt es originäre Ideen?

In An Alle on August 20, 2009 at 6:11 pm
Foto: Kugel

Foto: Kugel

Ich beispielsweise habe niemals originäre Ideen„, sagt Patrick in diesem Artikel hier über den Wert und das Klauen von Ideen. Wenn Patrick keine originären Ideen hat, habe ich denn wenigstens welche? Oder hat zumindest irgendjemand irgendwann mal eine gehabt? Gibt es überhaupt originäre Ideen, also Ideen, die nicht von der Natur abgeschaut sind und die nicht durch Verknüpfung, Kontextverschiebung oder Erweiterung von anderen Ideen entstanden sind?

Natürlich„, habe ich mir gedacht. Die menschliche Ideenwelt ist ja kein abstraktes Gebilde wie die Mathematik, deren Schönheit und Komplexität sich auf wenige Axiome zurückführen lässt. Wie sollte denn sonst Neues in der Welt entstehen? Wie sollten denn sonst Impulse für Veränderung entstehen – wenn nicht durch originäre Ideen?

Ein einziges Beispiel würde mir reichen. Ein einziges Beispiel wäre bereits der Beweis der Existenz, der Möglichkeit originärer Ideen – und von Menschen entwickelter Ideen. Aber ich habe bisher noch keines gefunden. Einfache geometrische Formen wie Linien oder Kreise (selbst Sechsecke) findet man in der Natur. Komplexere wie Dreiecke, Trapeze oder Pyramiden lassen sich aus den einfachen entwickeln. Und so scheint es mit allem: mit dem Rad, der Elektrizität, dem Flugzeug, der Bremse, dem Auto, der Relativitätstheorie, der Musik. Eine komplexe Erfindung wie der Computer ist nur möglich durch eine Vielzahl von Beobachtungen der Natur, den daraus gewonnenen Erkenntnissen und deren raffinierte Verknüpfung. Selbst die Idee von Gott stammt wahrscheinlich aus der Abstraktion der Bedeutung der Sonne für den Menschen. Ganze Wissenschaftszweige versuchen die genialen Überlebensstrategien von Pflanzen und Tieren für den Menschen nutzbar zu machen. Alles nur geklaut?

Das Internet und die Musiker: Fluch oder Segen?

In An Manche on August 18, 2009 at 10:22 am

Ich hatte die Frage schon mal hier gestellt, da war die Diskussion aber bereits erschöpft:

Stimmt das denn wirklich, dass es für Musiker heute schwieriger ist, von ihrer Musik zu leben als früher? Und ich spreche dabei nicht von denen, die auch heute noch vom alten System der Selektion und Markenbildung profitieren…
Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit für einen jungen, unbekannten Musiker heute, von Musik leben zu können, verglichen mit der Wahrscheinlichkeit vor 20 Jahren?

Wie kann man sich einer Antwort fern jeder Meinungsmache nähern? Gibt es Studien, Anekdotensammlungen, schlüssige Argumentationsketten, Schätzungen?

Musik aus der Hölle?

In An Manche on August 12, 2009 at 9:12 am
Foto: Helico

Foto: Helico

Noch was zu Charles Manson: der Mann war auch Musiker, einer seiner Songs wurde sogar von den Beachboys gecovert (hier die Version der Beachboys, hier die Version von Manson). Klingt so die Musik des Teufels? Wird dieser Song ab und zu in der Hölle aufgelegt?

In Frankreich wurde vor sechs Jahren Betrand Cantat, der Leadsänger der einflussreichen französischen Rock-Formation Noir Désir wegen Totschlags an seiner Freundin Marie Tritignant zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Einige Stimmen in der französischen Öffentlichkeit forderten, das Abspielen im Radio sowie den Verkauf von Liedern von Noir Désir zu verbieten – als zusätzliche Strafe oder auch als Respekt vor den Hinterbliebenden der Opfer (hier mein Lieblingslied von Noir Désir). Andere suchten und fanden natürlich auch Spuren des Bösen im Werk des Totschlägers. Also wieder ein paar mehr Titel für die MP3-Sammlung des Teufels?

Aber wer sagt dann, dass sich ausgerechnet die dunkle Seite eines Menschen in seiner Musik findet? Könnte es nicht auch sein, dass all seine positiven Seiten in seine Musik fliessen, dass die Musik gerade das Heilmittel ist, dass die bösen Seiten lindert, hindert, nicht ausbrechen lässt?

Erwiderung an den freundlichen Herrn (mit und ohne Messer)

In An Mich on August 7, 2009 at 5:37 pm

Wenn dir dieser freundliche, leicht verwirrt wirkende Herr aus dem Video gegenübersitzt, der ein paar seiner Freundinnen mit Messern und Pistolen in eine Villa geschickt hat, um dort alle Anwesenden zu töten und zu schänden (darunter eine Schwangere), und er dir auf die Frage, ob er Schuldgefühle oder Gewissensbisse habe, antwortet „Ich? Nach allem, was mir diese Gesellschaft angetan hat, soll ich Gewissensbisse haben? Habe ich nicht das gleiche Recht, euch anzutun, was ich für richtig halte? Was erwartet ihr wohl, was ich machen werde, wenn ich hier rauskomme, nachdem man mir mein ganzes Leben lang ins Gesicht gespuckt habt? Wenn ich überhaupt etwas bedaure, dann nicht das, was ich getan habe, sondern was ich nicht getan habe. Ja, wenn ich 300 Menschen getötet hätte, dann würde ich mich besser fühlen! Dann hätte ich das Gefühl, dieser Gesellschaft, etwas gegeben zu haben. Weisst du, wenn ich dich jetzt hier totschlagen könnte, ich würde mich nicht anders fühlen als beim Einkaufen.“, gibt es dann irgendeine Form der Erwiderung, die ihn überraschen könnte oder nachdenklich stimmen? 

Übrigens: würde die Erwiderung anders ausfallen, wenn der freundliche Herr ein Messer in der Hand hätte und keine sonstigen Personen, insbesondere Polizisten in dem Raum anwesend wären? Und woher kommt dieser Eindruck, dass er aus seiner Sicht vielleicht tatsächlich Recht hat mit seiner Auge-um-Auge-Theorie?

Und: wenn selbst ein Massenmörder glaubt, Gutes getan zu haben, wie kann man davon ausgehen, dass ein beliebiger, harmloser Mensch sich im Unrecht glauben könnte und Kritik an sich herankommen lässt?

Ungewissheit als Wahlversprechen

In An Manche on August 5, 2009 at 9:48 am
Foto: cliff1066

Foto: cliff1066

Als Kind hat mich eine Donald-Duck-Geschichte beeindruckt. Donald wird in irgendeiner Stadt im wilden Westen aus welchen Gründen auch immer gegen seinen Willen als Kandidat für den Posten des Sheriffs vorgeschlagen. Um auf Nummer Sicher zu gehen und seine Wahl auf jeden Fall zu verhindern, hält er eine öffentliche Rede vor den Bürgern und sagt sinngemäss:  „Ich habe so etwas noch nie gemacht, ich habe keine Ahnung, keinen Schimmer von der Aufgabe – ich bin unfähig, wählt den anderen!“

Die Reaktion der Bürger war überraschend. Endlich jemand, der zugibt, dass er keine Ahnung hat. Endlich jemand, der uns nicht mit durchsichtigen Lügen und falschen Versprechungen um den Finger wickeln will. Endlich ein normaler Mensch. Den wählen wir! Und Donald wurde mit überwältigender Mehrheit zum Sheriff gewählt (ich weiss allerdings nicht mehr, wie die Geschichte endete – wenn jemand sie ebenfalls kennt oder sie im Web zugänglich ist, bitte sagen!)

Ich frage mich, ob die Reaktion der Deutschen auf einen Kanzlerkandidaten, der zugibt, nicht mehr zu wissen, als die, die auch nicht viel mehr wissen, weil nunmal niemand in die Zukunft schauen kann, vielleicht ebenso positiv wäre. Ehrlichkeit als Wahlprogramm – kann das funktionieren? Hat es schonmal jemand mit Ehrlichkeit probiert? Und ist schon mal jemand für Ungewissheit als Wahlversprechen gewählt worden?