Die Fragen sind es, aus denen das, was bleibt, entsteht (Erich Kästner)

Dicke Kontakte

In An Alle on März 5, 2009 at 10:14 am

[Foto: Schockwellenreiter]

Kann man mit jemandem befreundet sein, ohne ein Geheimnis zu teilen – ohne eine gemeinsame Intimsphäre, in der Gespräche stattfinden, die niemanden anderes, auch andere gemeinsame Freunde nichts angehen? Oder anders herum gefragt: kann Freundschaft öffentlich sein, darf jeder dem Gespräch der Freunde lauschen wenn er will? Ist Freundschaft möglich ohne Geheimnis? Müssen wir in Zeiten digitaler Kommunikation den Begriff Freundschaft neu definieren oder müssen wir für das, was Freundschaft einmal war, ein neues Wort finden, jetzt da jeder Kontakt in einem sozialen Netzwerk gleich ein Freund ist?

  1. Jemand, der eine Zeit in Japan gelebt hat, sagte mir mal, dass es dort anders als bei uns nicht so sei, dass Freundschaft mit Intimität und Geheimnisverrat zu tun habe. Dort ist Freundschaft vor allem gemeinsames Tun. Tatsächlich kann ich mir gut vorstellen, dass unser westlicher Freundschaftsbegriff recht speziell ist und aus unserer ebenso speziellen neuzeitlichen Vorstellung von Individualität herrührt.

  2. Manchmal frage ich mich, warum werde ich überall zu lauschen genötigt?

    • Benni, interessant. Führt also der Weg über die Digitalisierung hin zu einer eher kollektiv-orientierten Gesellschaft?

      Rufus, wer nötigt dich denn mit – und welchen Mitteln?

  3. Ich würde sagen man muss (bewusst nicht darf u./o. sollte) das worauf Du anspielst viel stärker differenzieren…

    Freundschaft kann ein wie mehrseitig sein. Es gibt ja auch viele Freundschaften bei der eine Seite fast ausschließlich nimmt und die Andere ebenso nur gibt, wobei sich keine der Parteien darüber beschwert. Die Freundschaft zwischen einem Mann und Nachwuchs z.B.. Männer können biologisch bedingt nie derart tiefe Beziehungen zu Nachwuchs aufbauen wie Frauen. Sie trugen diesen ja in sich. Da keine biologische Verbindung besteht, bauen Männer zu Nachwuchs erst dann echte Beziehungen auf, wenn dieser beginnt sich verständlich zu machen (wie auch immer das aussieht). Ab da an gibt der „Vater“ grundsätzlich ohne eine wie auch immer geartete Gegenleistung zu erwarten. Erst durch die Menge an Kommunikation zwischen dem Gebenden und dem Nehmenden baut sich Jahr für Jahr eine gegenseitige Erwartungshaltung auf. Die Freundschaft wird komplexer und es entwickeln sich so etwas wie Loyalität zueinander. Sprich es wird zusehends geglaubt den Beziehungspartner zu kennen, sich dessen Verhaltensweisen vorhersagend verlässlich sicher zu sein. „Ich weiss warum Du…“.

    Der geliebte und betreute Sohn schleppt daher nur sehr selten eine Freundin in das elterliche Haus, welche dazu absolut nicht passt. Dies geschieht lediglich da wo der Kontakt zwischen Eltern und Kindern auf ein Minimum reduziert wurde (Arbeit/Sozialisierung/Kullturkreis).

    Davon einmal abgesehen kann man auch einer Idee gegenüber freundlich gesinnt sein, bzw. dieser loyal gegenüber stehen, ohne diese zwingend zu personalisieren.

    Das merke ich z.B. immer wieder wenn ich mal wieder eine Schule betreue. Sehr viele der hiesigen Lehrkräfte mögen mich nicht. Ich sei sehr bestimmend, sehr fordernd und in Teilen auch offen arrogant (nicht überheblich). Doch kooperieren sie dennoch stets Alle mit mir, weil sie sehr schnell merken das ich das System Schule prinzipiell aus allen Blickwinkeln betrachte, und mich dabei von keiner Seite durch Propaganda beeinflussen lasse. Ich lasse auch nie einen Zweifel daran das es mir immer und einzig um die Idee der Bildung und die Chance dazu an und für sich geht, nicht um einzelne Teilaspekte u./o. Protagonisten Und tatsächlich nennen mich viele dieser Personen, wenn meine Arbeit getan ist, einen Freund (auch wenn ich mir ihren Namen nicht merke und sie nicht sofort auf der Straße grüße, wenn man sich mal zufällig über den Weg läuft…).

    Ich denke also nicht das wir den Begriff Freundschaft neu definieren müssen, wir sollten uns vielleicht eher darüber bewusst werden das wir die Protagonisten diesen erst durch unser Verhalten zueinander mit Substanz ausfüllen.

    Wenn ich also innerhalb eines sog. sozialen Netzes sog. Freunde habe (analog u./o. digital ist da egal), dann kann ich ja mal schauen wie viel Substanz diese Freundschaften haben indem ich dort feststelle „Meine Hütte ist abgebrannt. Mein ganzes Leben ist abgefackelt. Alles ist weg. Auch mein Arbeitgeber ist spontan verschwunden, keine Unterlagen mehr vorhanden. Ein Schok. Wer hilft mir und meiner Familie wieder auf die Beine?“.

    Wie viele Freunde bleiben dann?
    Wie vielen Menschen würde man selber ein Freund sein?

    • Michael, du hast ein paar interessante Aspekte genannt. Wieviele meiner digitalen Freunde würden auch in der Not dasein – diese Frage kann ich in der Tat nicht mal für meine alten Freunde beantworten, das erkennt man wohl wirklich erst, wenn es soweit ist. Und vielleicht sind sogar welche für mich da, die eigentlich gar nicht zu meinen Freunden gehören, vielleicht hilft mir ein völlig unbekannter, der im Web auf mein Schicksal aufmerksam wird. Dieser Begriff der Freundschaft lässt sich wirklich nicht leicht packen.

  4. z.B. die anderen Öffigäste mit ihren mobilen Devicen oder wie das heißt …

    • Rufus, mir ist es trotz Internet-Suche nicht gelungen, die Bedeutung von Öffi herauszufinden. Mobile Device ist mir ein Begriff. Anscheinend kann man mich mit regionalen Dialekten eher überraschen als mit Englisch…
      Aber stimmt, es gibt da seit nicht allzulanger Zeit Leute, die einem dauernd zeigen wollen, was ihre Tragbaren Verständigungswerkzeuge (TV) so alles tolles können. Erinnert mich ein bisschen an die Schulzeit…

  5. Öffentliche Verkehrsmittel, aber Google hätte als erstes Ergebnis zu Öffi schon einen Hinweis ausgespuckt 😉

  6. Freundschaft bewährt sich. Somit ist jeder Kontakt auch ein potenzieller Freund – jedenfalls bis zu seiner Bewährungsprobe.

    • … zu der es in den meisten Fällen ja nicht kommt, vor allem bei digitalen Freunden. Ich definiere also: ein Freund ist bis zu seiner Bewährungsprobe ein Kontakt.

  7. @Fragezeichner:

    Hallo du Kontakt 🙂

    • 😉
      Ein Kontakt, ein guter Kontakt, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt.
      Ein Kontakt bleibt immer Kontakt und wenn die ganze Welt zusammenfällt.
      Drum sei auch nie betrübt, wenn dein Schatz dich nicht mehr liebt.
      Ein Kontakt, ein guter Kontakt, das ist der größte Schatz, dens gibt.

  8. Natürlich müssen wir im digitalen Zeitalter den Begriff Freundschaft nicht neu definieren. Es ist allenfalls eine neue Form hinzugekommen, wie Freundschaften geschlossen werden können. Oder würde jemand ernsthaft jemanden als, ich nenne es mal «echten» Freund bezeichnen, dem man nicht doch wenigstens mehrmals auch real begegnet ist?

    Selbstverständlich ist Freundschaft auch ohne Geheimnis möglich. Genauso wie mit. Für mich nicht die Frage, wie Freundschaft definiert und zelibriert wird. Sie ist ein Gefühl. In einer guten Freundschaft, darf (muss) ein Mensch sehr wohl für sich sein (können). Wo steht auch geschrieben, dass man innerhalb von digitaler Kommunikation keine Geheimnissse mehr hat oder zuviel? Die Frage ist doch, wie authentisch bewegt man sich im Netz?

  9. Oder würde jemand ernsthaft jemanden als, ich nenne es mal «echten» Freund bezeichnen, dem man nicht doch wenigstens mehrmals auch real begegnet ist?

    creezy, heute wahrscheinlich kaum. Aber vielleicht in 30 Jahren? Ich könnte mir vorstellen, dass die neuen Kommunikationsmöglichkeiten auch die Bedeutung von Freundschaften völlig verändern. Wenn wir (wie durch Twitter anscheinend bereits möglich) mit mehr als 1000 Leuten gleichzeitig kommunizieren können und diese Kommunikation uns persönlich oder beruflich weiterbringt, werden wir zwangsläufig unser zeitliches Budget umschichten, weg von persönlichen Treffen hin zur digitalen Kommunikation mit unserer Kontakt-Wolke.

  10. Ich möchte nochmal auf den ursprünglichen Beitrag eingehen, von dem sich die Diskussion ja schon etwas weiter entfernt hat:

    Kann man mit jemandem befreundet sein, ohne ein Geheimnis zu teilen – ohne eine gemeinsame Intimsphäre, in der Gespräche stattfinden, die niemanden anderes, auch andere gemeinsame Freunde nichts angehen?

    Das definiert doch jeder anders. Je nachdem was man sich aus einer Freundschaft erhofft, ist es doch so, das man die „Messlatte“ für die Defintion einer Freundschaft unterschiedlich legt. Für mich ist es schon wichtig in einer Freundschaft, das man etwas voneinander weiß, optimalerweise ein Geheimnis. Da kommt ja dann das Wort Vertrauen ins Spiel. Ich würde sicherlich auch einige meiner Web-Kontakte als Freunde bezeichnen, die aber bei längerer Betrachtung eher Kontakte oder Bekannte sind, weil ich sie (nach meiner Definition des Wortes Freundschaft) gar nicht genug kenne, um sie wirklich als „Freunde“ bezeichnen könnte.

  11. Roman, ich kann es nicht mal genau definieren, was Freundschaft für mich bedeutet. Ich habe ganz unterschiedliche Arten von Freundschaften und es für mich sogar schwierig, die Gemeinsamkeiten zu identifizieren. Vertrauen gehört dazu, ja. Aber kenne ich meine echten Freunde so gut wie ich glaube? Oder ist es umgekehrt nicht möglich, dass ich meine virtuellen Freunde/Kontakte besser kenne als ich befürchte? Wie gut muss ich jemanden kennen, um Vertrauen zu ihm zu gewinnen?
    Ohne Kommunikation mit virtuellen Kontakten hätte ich mir viele dieser Fragen gar nicht gestellt. Und allein dafür und die interessanten Kommentare hier hat es sich schon gelohnt 🙂

  12. Um sich erfolgreich auf die Suche nach Substanz zu machen, muss man zunächst einmal eine Idee davon haben was u./o. wie diese Substanz sein soll. Wie war das gleich?

    „Um Rekursion zu verstehen, muss man zunächst einmal Rekursion verstehen!“
    (hab vergessen wo ich das her hab, finde es aber lustig)

  13. Man könnte auch sagen, das es verschiedene Arten von Freundschaften gibt. Diese ganz engen Freundschaften, bei denen man Geheimnisse teilt, gibt es. Aber sie sind selten. Wenn man von „solchen Freunden“ zu viele hat, geht das auch nicht gut, weil man in solche Freundschaften ja die meiste Zeit investieren muß.

    Ich bin in jedem Fall der Meinung (und das ist in meinen Augen ganz logisch), das bei Web-Freunden, die man noch nie persönlich getroffen hat, an einer bestimmten Stelle Schluß ist. Natürlich könnte ich auch mit einem Web-Freund Geheimnisse teilen – aber man tut sich natürlich schwer, diese preiszugeben, weil man ja nicht wirklich weiß, wer hinter einem Namen oder auch einem Nickname wirklich steckt.

    Die Substanzfrage, die Michael aufwirft, ist natürlich auch nicht uninteressant. Man kann die Freunde auch danach festlegen, wieviel Substanz die jeweilige Bekanntschaft hat.

    • Roman, gebe dir recht. Und zudem wird die Sache noch zusätzlich dadurch kompliziert, dass Menschen sich im Laufe der Zeit verändern. Und plötzlich ist dann die gemeinsame Basis verschwunden, die Substanz, die Michael anspricht, aufgezehrt, das Vertrauen nicht mehr da. Es gibt Freundschaften, die zerbrechen nach 50 Jahren aus scheinbar nichtigem Anlass (so geschehen im Freundeskreis meines Vaters).

  14. Wenn sich zwei Menschen gegenseitig Geheimnisse anvertrauen, also Freunde im besten Sinne sind, so glaube ich nicht, das durch das Auseinanderleben, das du ansprichst, die Vertrauensbasis verloren geht – jedenfalls, wenn kein konkreter Anlaß dazu besteht. Es wird dann eher so sein, das man einfach nicht mehr die notwendige Zeit investiert und so mehr und mehr an Status als Freund bei seiner/seinem Gegenüber verliert. Das ist genau die Substanz, die Michael vermutlich ansprechen wollte.

    Was den Anlaß angeht aus dem Freundeskreis deines Vaters angeht – so wie du schreibst, war das ja eine ziemliche Lapalie. Wenn daran eine Freundschaft zerbricht, muß doch vorher schon was passiert sein. Oder man hat sich eben schon auseinander gelebt.

  15. Interessante Diskussion, die ich fast verpasst hätte. Bennys Satz über unseren speziellen Freundschaftsbegriff, der von dem hohen Stellenwert der Individualität herrührt, möchte ich bestätigen. Habe letztens einen „Interkulturellen Workshop“ mit Indern gemacht, der das auch zeigte. In anderen Kulturen gibt es den Begriff „Bekannter“ gar nicht.

  16. Ich schließe mich creezy an, es ist ein Gefühl, vielleicht genau so schwer in Worte und Definitionen zu packen, wie Parfüm 🙂

  17. […] Auch wenn der Artikel beim Fragezeichner schon etwas älter ist, lohnt sich ein später Link, vor allem auch wegen der interessanten Diskussion über Freunde, Bekannte und Kontakte. […]

  18. […] der Frage, ob wir in Zeiten sozialer Netzwerke, in denen man Hunderte von so genannten Freunde habe kann, […]

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